Über das Kooperationsprojekt „Pinocchio“ zwischen dem Münchner Metropoltheater sowie den Stadttheatern Ingolstadt und Fürth schreibt Laura Guhl, Produktionsdramaturgin. Das von Jochen Schölch inszenierte Stück über den Abschied von der Kindheit wird am 13.10.2012 in Fürth Premiere feiern.

Zu Beginn einer Produktion steht bekanntermaßen stets die Frage nach der Relevanz: Warum ausgerechnet dieser Stoff? Trifft er uns in unserer gesellschaftlichen und sozialen Realität? Oder berührt er uns als emotionale Wesen, finden wir in ihm das „Allgemein-Menschliche“ wieder? Gelingt es dem Text, ein Netz aus poetischen Vorstellungen und phantastischen Welten zu spannen, das uns ins Träumen und Wünschen bringt? Für die Auswahl von Pinocchio galt für uns sicherlich beides.

Die Geschichte der anarchischen Holzpuppe, die „ein Junge aus Fleisch und Blut“ werden will ist eine Geschichte über die Kindheit und den Abschied von ihr, angereichert mit mythischen Bildern und im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaften Charakteren. Carlo Collodi erzählt vom Widerstand Pinocchios gegen die Welt der Erwachsenen. Er entwirft eine Erzählung über das „Andere“, verkörpert im hölzernen Körper des Protagonisten, der Widerstand gegen die fremde Umgebung leistet und – schlussendlich – doch in eine Gemeinschaft eingegliedert wird. In der Romanwelt des toskanischen Autors verläuft die Eingliederung des „Anderen“ in die Gesellschaft alles andere als schmerzfrei. Pinocchio wird unterworfen und domestiziert, die erzieherischen Mittel sind vielfältig und reichen von liebevollen Ratschlägen über Züchtigungen bis hin zur Todesdrohung. Dem vitalen und dem Lustprinzip verpflichteten Kind werden gesellschaftliche Normen anerzogen, um ein Zusammenleben möglich zu machen. Aber: Wie viel von unserer Individualität und Vitalität müssen wir aufgeben, um Gesellschaft leben zu können? Wie viel des inneren Kindes können wir uns bewahren, ohne rücksichtslose Individualisten zu werden und, von der anderen Seite gefragt, wie erziehen wir unsere eigenen Kinder richtig? Im Zeitalter der Ratgeberkultur und Super Nannys eine virulente Frage. 

An die Entscheidung für den Stoff schließt die Frage nach der Realisierbarkeit an. Der Roman ist mittlerweile vierzig Mal ins Deutsche übersetzt, die Adaptionen für die Bühne sind zahlreich – und zumeist im Bereich des Kindertheaters angesiedelt. Also, wie kriegen wir den Roman, auch und gerade für ein erwachsenes Publikum, auf die Bühne? 

Wir entschieden uns dafür, diesen Umgang gemeinsam mit den Schauspielern zu suchen und kollektiv eine Fassung zu entwickeln. Die Auswahl der Szenen sowie deren Abfolge legten wir bereits vor Probenbeginn fest. In Collodis Roman reiht sich Kapitel an Kapitel, wobei jedes Abenteuer der Holzpuppe als abgeschlossene Erzählung erscheint.  Lediglich der über allem schwebende Wunsch Pinocchios, ein „richtiger Junge“ zu werden, verbindet die einzelnen Erzählungen. Jede Station des Handlungsgerüsts betitelten wir mit einem Lernziel für Pinocchio. Die Figur lernt bei jeder Station eine neue Tugend wie Gehorsam, Disziplin oder Fleiß. Der Prozess der Menschwerdung wird der einer schrittweise Annäherung an ein Erziehungsideal. 

Die Rahmung der einzelnen Szenen wurde stark durch die bereits vorhandenen, sehr atmosphärischen Songs des Komponisten Martyn Jacques beeinflusst. Seine anarchischen Texte zeichnen eine Gesellschaft, die in ihrer inneren und äußeren Verfasstheit überaus fragwürdig ist. Darüber hinaus sind sie eine große Sympathiebekundung an den lebensbejahenden, kindlichen Protagonisten. Die von Brecht inspirierte Zigeuner-Zirkus-Musik des britischen Musikers lässt an eine umherziehende Jahrmarkttruppe denken, als Sinnbild einer brüchigen Welt. Ihre abendliche Show ist die Domestizierung Pinocchios, ihre Mittel sind Manipulation und Inszenierung, das Zurückgreifen auf alte Tricks des Theaters sowie das Verkörpern verschiedener Rollen, um Pinocchio endlich gefügig zu machen – oder ist doch noch ein bisschen Zeit, erwachsen zu werden? Das Spiel im und um das Theater wird wesentlicher Teil des Theaterabends und Impuls für zahlreiche Bühnenhandlungen. 

Im Mittelpunkt des Probenprozesses stand stets das gemeinsame Finden einer reduzierten Textversion, die Bildern, der Musik und dem Spiel weiten Raum lässt. Während des Probenprozesses wurde der gesprochene Text im gemeinsamen Gespräch oder im szenischen Proben vielfach verändert, angepasst, weiter reduziert und erst sehr spät endgültig fixiert. Der Prozess war einer der stetigen Diskussion, Veränderung, Verwerfung und Neuschöpfung von Text, Bildern und szenischen Aktionen, bei dem das Experiment und das Spiel stets im Vordergrund standen. Pinocchio ist deswegen eine große Ensembleleistung.

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