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„Safi, was glaubst denn du?“
Eine Frage, und ich schrecke auf. Wo sind wir? Ich bin in der Uni, und ich habe nicht aufgepasst. Es ist nicht so, dass ich das nicht möchte. Mein Kopf bleibt an so vielen Dingen hängen, die ganze Zeit: daran, wie sehr ein Lied klingt wie die Innenseite meiner Gedanken oder dass ein Buch die gleiche Farbe hat wie Müdigkeit sich anfühlt, und ich vergesse sofort, wer und wo ich bin. Ich sitze in einem Raum, und zahllose Gesichter blicken mich an. Ich habe vergessen, in welchem Fach ich sitze – Ethik? Pädagogik? – und die Aufmerksamkeit des Professors ist auf mich gerichtet. Mühsam ordne ich das Chaos in meinem Kopf in eine Reihe, nur um zu merken, dass ich von der Stunde nichts mitbekommen habe, außer eben diese Frage. Also improvisieren: „Was glaube ich denn – das ist eine weit gefasste Frage. Auf was bezogen? Auf Gott?“ „Glaubst du an Gott, Safi?“ Gute Frage. An welchen? Gibt es Gott? Wer oder was ist das? Sie
fragen aber ganz schön heftige Dinge, Herr Professor, und das noch so früh am Morgen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, was ich selbst glaube. Ich weiß auch nicht, ob ich glaube. Also irgendetwas schon – glaube ich. Ich glaube, man tut das immer, jeder, mehr oder weniger. An Gott? Ich weiß es nicht. An welchen denn? An eine Ordnung? An das Unterbewusstsein, an sich selbst? Sind das nicht alles verschiedene Worte für den gleichen Glauben an etwas, das die Welt bestimmt und auf das wir keinen Einfluss haben? Ich glaube nämlich schon, aber ich weiß es nicht. Ich glaube nicht an den einen Gott und ich glaube nicht nicht daran, falls es das ist, was Sie wissen wollen. Ich glaube nicht, dass man das Recht hat, irgendwem vorzuschreiben, glauben zu müssen, dass es Gott gibt. Oder genauso schlimm: dass es ihn nicht gibt. Ich glaube, dass jeder das glauben darf oder muss, was ihm Sicherheit gibt. Man
braucht etwas, an das man sich festhalten kann, sei es nun Gott oder die Sterne oder Selbstbewusstsein oder alles zusammen. Ich glaube nicht, dass es die eine große Wahrheit gibt, die man glauben kann oder muss. Deshalb heißt es ja glauben und nicht wissen, glaube ich aber nur. Ich weiß es ja nicht.
„Glaubst du an die Welt?“ In welcher Beziehung? An die Tatsache, dass die Welt existiert? In Quantenphysik war ich nie gut. Ich glaube, an das, was ich sehe, spüre, höre und schmecke. Mir bleibt auch wenig anderes übrig. Aber ist es wirklich da? Ich weiß es nicht. Manchmal, kurz bevor ich einschlafe, werden meine Gedanken seltsam, ich höre in Farben, es ist Musik da, und alles, was ich denke, macht keinen Sinn, aber ich verstehe es trotzdem. Ich habe das mal gegoogelt; es bedeutet anscheinend, dass das Gehirn sich entspannt und andere Areale aktiv sind als im Wachzustand. Aber woher weiß ich, dass das nicht die echte Welt ist und die „reale“ nur ein Traum. Richtig, Herr Professor: Ich weiß es nicht. Aber ich glaube trotzdem, dass unsere Realität echt ist.

„Aber wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand da ist, um es zu bezeugen, macht er dann ein Geräusch?“
Herr Professor, ich habe eine Gegenfrage: Fällt er dann überhaupt um? Oder bezogen auf den Glauben an die Welt und die Menschheit? Ob es noch Hoffnung gibt für uns, ob wir einem Atomkrieg entrinnen können und wie es überhaupt so weit kommen konnte, wie es jetzt ist? Herr Professor, woher soll ich das denn wissen? Ich sage Ihnen, was mich am meisten verwirrt: Ich lese die Nachrichten, und mein Blickfeld wird weiß, Übelkeit kocht in meinem Hals. Ungerechtigkeit macht mich krank. Nicht nur mich, sondern mein gesamtes Umfeld. Aber woher kommt sie? Sie wird von uns gemacht. Warum fühle ich, dass Dinge falsch sind, aber von den Leuten, die sie verursachen, werden sie als richtig empfunden? Gibt es ein richtig und falsch? Muss es ja, sonst würde man es nicht fühlen. Aber woher weiß ich dann, dass sie falsch liegen, und ich richtig? Und wer bestimmt das Objektive? Oder werden die Dinge von den
Verursachern ebenfalls als falsch empfunden, aber als vernachlässigenswert angesehen? Man kann nicht das Wohlbefinden des Einzelnen über das Wohlbefinden der Masse stellen – sagt die Masse. Weiß sie das? Oder glaubt sie das? Wer ist das Maß? Wer bestimmt, was richtig ist? Das weiß ich auch nicht. Ich glaube wieder mal nur. Aber wenn sich etwas so stark anfühlt, kann es doch nicht nur eine Vermutung sein. Ich glaube, Glaube ist etwas sehr starkes. Und wenn viele Menschen das gleiche glauben, von sich aus, nicht weil es ihnen beigebracht wird, dann wird es einen Grund haben. Welchen? Das weiß ich nicht.
„Glaubst du an die Liebe, Safi?“
Dasselbe Spiel, Herr Professor. Laut meines früheren Biologielehrers ist Liebe eine erhöhte Ausschüttung von Serotonin im Gehirn in Verbindung mit einem bestimmten Menschen. Wer wäre ich also, nicht daran zu glauben? Ach, ob ich an ‚die wahre‘ Liebe glaube? Ich glaube nicht an unwahre Liebe, Herr Professor. Was Sie wahrscheinlich meinen, ist die einzig wahre, romantische Liebe. Da bin ich mir nicht sicher. Dieser Begriff ist, glaube ich, gesellschaftlich
sehr vorbelastet. Es wird ein Ideal gezeichnet von zwei Menschen, die ineinander – und nur ineinander – verliebt sind, zusammen leben und gelegentlich miteinander schlafen. Dieses Modell wird als das einzige dargestellt, was es aber nicht zwingend für alle Menschen ist. Ich glaube, für mich ist das nichts, Herr Professor. Romantische Liebe ist etwas sehr Schönes, auch für mich, keine Frage. Aber nicht mal das fühlen alle Menschen. Und warum muss man von Anfang an wissen, ob das zu einem passt? Was oft gesagt wird, ist, dass eine Beziehung ein Lebensziel ist. Aber ich glaube, es ist viel wichtiger, das Leben selbst zu lieben, und sich selbst, und währenddessen auch andere – und bei manchen ist das eben immer der oder die gleiche. Aber nicht bei allen. Wie das bei mir ist? Liebe Güte, Herr Professor. Ich bin doch erst zwanzig. Vor dem Frühstück weiß ich meistens noch nicht mal, was an diesem Tag meine
Lieblingsfarbe sein wird. Ich weiß es noch nicht, und in diesem Falle glaube ich noch nicht mal etwas. Zur Zeit bin ich schon verliebt. Und weiter hinaus möchte ich im Moment noch gar nicht denken. Aber Herr Professor, dieses Beziehungszeug ist doch nicht das Einzige, was Liebe ist! Ich glaube daran, Menschen zu lieben. Oder nicht nur Menschen. Ich liebe auch meine Eltern, meine kleine Schwester, meinen Hund, meine Freunde und Mitbewohner. Ich liebe es, draußen zu sein, ich liebe Worte, Geschichten und Sprache, ich liebe Tanzen und schöne Gerüche, Kerzen, Kochen, Lachen, bis mir die Luft wegbleibt, Lernen, Musik machen, ich liebe mehr, als ich aufzählen kann. Im Grunde liebe ich nur das Gefühl, das diese Dinge in mir auslösen. Eigentlich liebe ich also die Liebe. Also ja, ich glaube daran.
„Was glaubst du denn, wer du bist?“
Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht aufmüpfig sein. Ich habe nur nicht aufgepasst. Die Stunde ist auch bald um, ich habe sehr lange geredet. Aber mal angenommen, das war keine rhetorische Frage, sondern ein ernst gemeintes Nachhaken: Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich weiß immer weniger, wer ich bin, je älter ich werde. Ich weiß nur schneller, wer ich nicht bin. Glaube ich. Ich mag so vieles, und ich kann manches. Ein bisschen. Glaube ich.

Sara Fiona Hertle ist 20 Jahre alt und spielt seit zwei Jahren im Theater Jugend Club. Sie studiert Pädagogik und Anglistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.