DAMALS WIE HEUTE
von Petra Jacoby

Die Strahlen der gerade aufgehenden Sonne kitzeln sie wach. Das Fenster ist geöffnet. Ein Hauch dieses Augustmorgens streift sie. Es duftet nach frisch geschnittenem Gras. Neben ihr schlägt das Baby die Augen auf.
Käthes Herz ist erfüllt mit Glück. Sie küsst die Kleine. Sie beugt sich über sie. Küsst ihn. Ihren Mann. Ihre zweite Chance. Dieser Mann, dieses Kind, dieses Haus. Was für ein Glück sie hat, denkt Käthe. Die Geburt zuhause, in ihrem Alter über 40, problemlos. Liebe lässt Wunder entstehen.
Heute will sie in die Stadt hinein. Der Bauer von nebenan wird sie mitnehmen. Er will mit dem Gespann auf den Markt, um Eier und Brot zu verkaufen. Die älteste Tochter ihres Mannes wird die Kleine hüten. Sie freut sich. Ihr Mann, der Zimmerer im Dorf, ist gerade dabei, den Dachstuhl des Bauers zu richten.
Ein ganz normaler Donnerstag, der sonnig und warm zu werden verspricht. Käthes Singen hallt durchs Haus. Georg, genannt Schorsch, lächelt. Er liebt seine Frau. Seine zweite. Das Leben geht weiter.
Dabei sah es vor drei Jahren so ganz anders aus. Seine Frau, die erste, war gestorben mit gerade 32 Jahren. Hinterließ ihm drei Kinder im Alter von 13, 11 und 10 Jahren. Das Haus sein Eigentum. Und dann ohne Frau. Im Jahre 1911. Mit Käthe am Dorffest fand er sein Glück, sein neues. Vom ersten Anblick an hatte er gewusst, was er wollte. Sie. Er hatte sich getraut. Alle im Dorf hatten sich mit ihm gefreut. Er ist beliebt. Der Zimmerer. Gilt als hilfsbereit, ehrlich und arbeitsam.
Der Markt ist gut besucht. Es wird gehandelt. Neuigkeiten werden ausgetauscht. Käthe will zum Kaufhaus Tietz am Kohlenmarkt. Sie findet, was sie sucht. Einen blauen Stoff. Ganz weich. Sie will der Kleinen eine Decke nähen. Sie tritt vor die Tür. Vom Rathaus läuten die Glocken her.
Sie nimmt das laute Geräusch nahender Pferde wahr. Eine Art Aufregung liegt in der Luft. Jubel breitet sich aus. Neugierig späht sie den Kohlenmarkt hinunter. Lässt sich mitreißen mit der Menge. Sieht die erste Kutsche, gefolgt von der zweiten. Bestückt mit Männern, die trotz der Augusthitze offiziell gekleidet sind. Amtsträger, denkt sie. Was ist da los?
Was für ein Auflauf! Feierlich wird eine Schriftrolle geöffnet. Einer der Offiziere fängt mit lauter Stimme, die die Erregung kaum verbergen kann, an zu verkünden:
„An das deutsche Volk!“
Sie hört und hört doch nicht. Es ist, als ob Angst ihr Herz umklammert. Doch nicht an diesem schönen Augusttag! Sie nimmt nur noch verschwommen wahr „Nun auf zu den Waffen!“
Auf einmal ist es klar. Krieg! Gegen Frankreich. Das, was sie so erfolgreich ausgeblendet hat. Nicht wahrhaben wollte. Nicht jetzt, nicht in dieser Zeit ihres Lebens. Männer zu den Waffen!
Sie denkt, Schorsch, nicht ihr Schorsch. Nicht jetzt! Ihr Atem stockt. Das blaue Tuch fällt in den Staub. Der Augusttag verliert seinen Zauber.
Da läuft sie schon die Königstraße hinab. Über die Brücke den Berg hinauf. In ihr Dorf. Sie rennt den ganzen Weg zurück. Sie hat nur einen Gedanken. Schorsch, er darf nicht gehen. Sie will ihm die Nachricht überbringen, bevor die Berittenen diese Nachricht an der Dorftafel anschlagen. Bevor die Männer im Dorf sich geschlossen aufmachen.
So ist sie es, die es ihrem Schorsch erzählt. Ihre Liebe in den Augen, ihre Worte erreichen ihn. Seine Entscheidung. Unumstößlich. Fortan gilt er im Dorf als Vaterlandsverräter.

Petra Jacoby stammt ursprünglich aus der Oberpfalz und hat über einige Umwege, z.B. über die USA, Frankreich und Australien den Weg nach Fürth gefunden. Sie ist Fremdsprachenkorrespondentin in Englisch, Französisch und Spanisch und langjährige Teilnehmerin der Schreibwerkstatt des Brückenbauprojekts. Sie schreibt seit ihrer Jugend, aber erst seit einiger Zeit auch für die Öffentlichkeit.