DER VOLKSFEIND – BIN ICH!
von Felizitas Handschuch

Die Nornen sitzen an ihren Webstühlen zu Füßen von Yggdrasil und weben das Schicksal der Menschen. Ihre Fäden sind grau. Aber es kommt vor, dass eine von ihnen neben sich greift und einen roten Faden in das Gewebe einfügt. Dann bin ich auf der Welt. Ich, der Volksfeind. Meine früheste Erinnerung reicht zurück bis auf den Marktplatz von Athen, wo ich lange Gespräche mit den Passanten führte. Ein Verhalten, das die Jugend verdarb. Als Volksfeind wurde ich gezwungen, den Schierlingsbecher zu leeren. Später war ich in Rom, ich weigerte mich, den Kaiser als Gott zu verehren. Als Mutter von sieben Söhnen musste ich mit ansehen, wie sie einer nach dem anderen für ihre Überzeugung in den Tod gingen. Auch ich blieb von den Löwen nicht verschont. In Frankreich tauchte ich auf zu Zeiten der Inquisition. Ich weigerte mich, Kriegsdienst zu leisten. Häresie! Schon bald danach arbeitete ich in Würzburg als Hebamme. „Hexe!“, schrien sie, bevor sie mich verbrannten. Als Volksfeind musste ich Deutschland einige Zeit später verlassen. Ich lebte als Journalist in Paris. Hier ging ich in meiner Matratzengruft  zugrunde. Ich wanderte nach Amerika aus, dort kämpfte ich mit anderen Gewerkschaftern um einen gerechten Lohn. Ich starb auf dem elektrischen Stuhl.  In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts war ich wieder in Deutschland. Ich studierte in München. Der Hausmeister hielt mich fest, als ich Flugblätter in die Aula regnen ließ. Dieses Mal wurde ich enthauptet. Im dritten Jahrtausend wollte ich alles besser machen. Schluss mit Rot. Ich lebte ein unauffälliges Leben, engagierte mich, aber nicht zu viel. Keine NSA sollte irgendetwas an mir auszusetzen haben. Da entdeckte ich die Liste im Netz, die Orcus-Liste: Diese Menschen sind Volksfeinde und sollen verschwinden! Mein Name steht darauf.

Felizitas Handschuch ist dem Landkreis und der Stadt Fürth seit nahezu 60 Jahren durch Kindheit, Heirat, Wohnsitz und Schuldienst verbunden. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist stolze Oma von zwei entzückenden Enkeltöchtern. Seit 32 Jahren unterrichtet sie am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Oberasbach. Dort hat sie ihre kreative Nische in den Bereichen Theater und Film gefunden.