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Was glaubst denn du? – Ein wenig provokativ klingt die Frage, aber auch neugierig. Ich will vier Fragen aufgreifen – seelsorgerliche,
politische, kirchliche und existentielle. Wir leben in einer Zeit, die darauf ausgerichtet ist, das Maximum herauszuholen. Die Arbeitswelt wird optimiert. Daten werden immer genauer erfasst und ausgewertet mit dem Ziel, Produktivitätsreserven auszuloten. Längst hat die Arbeitswissenschaft erkannt, dass Pausen schöpferisch sind und Kommunikation für die Kreativität wesentlich. Google denkt darüber nach, individuell zugerichtete Nachrichten genau in den 5 Minuten aufs Smartphone zu senden und dem „Nutzer“ zu verkaufen, in denen er täglich am Kaffeeautomaten wartet. Auch die Freizeit ist mit dieser Offensive konfrontiert. Jede Tätigkeit wird zum Markt, für die ein Angebot geschaffen wird. Wer joggt, weiß, was die dafür „notwendige“ Kleidung kostet. Wer nicht trainiert, wird abgehängt. Und eine App soll kontrollieren, wie erfolgreich das Training ist. Gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach „nutzloser Zeit“. Ein Ratschlag wird gerne gegeben: „Mach einmal gar nichts“. Aber das ist gar nicht so einfach. Was macht man, wenn man nichts macht? Es geht weniger um die Tätigkeit, die man dann tut oder nicht tut, sondern um die damit verbundene Erfahrung. Stille erleben, sich im Singen spüren, beim Laufen mit sich eins sein, in der Meditation offen werden, sich mit einer Auszeit im Kloster zurückziehen, auf dem Jakobsweg sich dem Gehen anvertrauen – all das erfreut sich steigender Beliebtheit. Es geht darum, zu mir selbst zu kommen, mich in der Tiefe zu erfahren, und zu spüren, dass mein Leben einen Sinn hat. Sinn ist mehr als das erfolgreiche Abarbeiten von täglich sich stellenden Aufgaben. In jedem Gottesdienst kann wenigstens ein Stück davon erlebt werden.
Die Berliner Philosophin Susan Neiman entdeckt in der Aufklärung religiöse Haltungen. Ein Ketzer wie Voltaire konnte vor einem Sonnenuntergang niederknien. „Kants Eingrenzung der Vernunft war eine Verneigung vor all dem, was unser Denken übersteigt … Solche Ehrfurcht … enthält Bewunderung, vor allem aber Dankbarkeit: für das Sein selbst und für die Tatsache, dass man lebt, um es zu erfahren.“ (ZEIT, 27.10.16)
Niederknien, Verneigen, Ehrfurcht, Bewunderung, Dankbarkeit: das alles sind wesentliche Elemente im Glauben. Der Glaube besingt sie und feiert
sie und gestaltet sie. Die Vernunft ist anschlussfähig für den Glauben – und das gilt dann auch umgekehrt. Aus solchem Staunen, aus solcher Dankbarkeit leben und das Leben gestalten, das gehört wesentlich dazu. Das Wichtigste im Leben ist unserer Kontrolle entzogen. Die Reformation hat das so formuliert:
Der Mensch wird nicht aus Werken gerecht. Wir können unser Heil nicht herstellen. Das Wichtigste im Leben wird geschenkt. Ohne jede Voraussetzung,
bedingungslos ist der Mensch von Gott angenommen. Er wird aus Glauben gerecht. Dieses Vertrauen lässt sich nicht herstellen, aber auch nicht einfach vertreiben. Es macht frei. Aus dieser Freiheit sollen und müssen wir uns einmischen in diese Welt, damit „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Psalm 85,11).

R. ist aus dem Nordirak geflohen. Er und seine Familie wurden vom IS bedroht. R. kam in Ungarn an, seine Personalien wurden aufgenommen. Er wurde inhaftiert, unter Polizeiaufsicht von Hunden traktiert und geschlagen. Er konnte nach Deutschland weiterfliehen. Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass Asylfälle dort bearbeitet werden, wo der Flüchtling als erstes in Europa registriert wurde. R. soll nach Ungarn abgeschoben werden. Er findet in einer Kirchengemeinde Unterkunft. Er verbringt mehrere Wochen im Kirchenasyl, bis die Überstellungsfrist abgelaufen ist. Ungarn kann nach einer 6-Monats-Frist die Abschiebung ablehnen – und tut das auch. R. stellt in Deutschland seinen Asylantrag, der große Aussichten auf Erfolg hat. Er verlässt das
Kirchenasyl. Kirchenasyl ist eine Gratwanderung. Es stärkt den Rechtsstaat, weil es ihn in einer Einzelfallentscheidung kritisiert. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist laut Grundgesetz die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Mit dem Kirchenasyl erinnert die Kirchengemeinde die staatliche Gewalt an diese oberste Verpflichtung, deren Einhaltung in diesem konkreten Fall gefährdet ist. Die Kirchengemeinde informiert Ausländerbehörde,
Polizei und Bundesamt für Migration über den Aufenthaltsort des Flüchtlings. Die Politik hat sich dafür entschieden, das Kirchenasyl zu respektieren.
Die Kirchengemeinde beruft sich auf biblische Worte: „Der Fremdling soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (3. Mose 19,34) Und Jesus sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt
mich aufgenommen.“ (Matthäus 25,35) Das ist noch kein politisches Programm, aber verpflichtet zu einer menschlichen Haltung gegenüber Flüchtlingen. Abwertungen und Feindseligkeit, sprachliche Verrohung und Beschimpfung verbieten sich. Das gilt für die einzelnen Flüchtlinge und damit auch dafür, dass sie ihre Religion mitbringen.

Im Strafgesetzbuch wurde der §175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, vor 22 Jahren abgeschafft. Dieser Beschluss
im Jahr 1994 war ein Meilenstein auf dem Weg eines fast beispiellosen kulturellen Wandels, der auch die Kirchen ergriffen hat. War es früher undenkbar, dass ein gleichgeschlechtliches Paar im Pfarrhaus wohnt, wird heute ein schwules Pfarrerspaar von einer ländlichen Gemeinde mit offenen Armen
begrüßt. Lesbische wie schwule Paare fragen nach kirchlichem Segen für ihre gemeinsames Leben. Sie wollen getraut werden wie heterosexuelle
Paare auch. Mehrere Landeskirchen haben bereits eine Gottesdienstordnung dafür herausgegeben. Nach evangelischem Verständnis ist die kirchliche Trauung eine Segenshandlung. Zwei Menschen, die so leben wollen, wie es der Liebe zu Gott entspricht, bekennen sich zueinander und werden
gesegnet. Die sexuelle Orientierung ist nach meiner Auffassung dafür nicht entscheidend, sondern ob diese zwei Menschen sich lieben, füreinander da sein wollen und als Paar diese Liebe auch in der Welt leben wollen. Jesus wurde nach dem höchsten Gebot gefragt und er hat zwei Worte aus dem Alten Testament aufgegriffen: Man soll Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst. Darin sind alle Gebote zusammengefasst. Keines ist höher. Also glaube ich, dass es Gottes Willen entspricht, Schwule und Lesben kirchlich zu trauen, wie alle anderen Paare auch. Zum Glauben gehört, die Bibel immer wieder neu zu lesen. Sie ist kein steinernes, totes Buch, sondern lädt zum lebendigen Lernen ein. Mein Weg mit ihr ist nicht zu Ende. Von ihrer Mitte her muss sie ausgelegt werden. Nach Martin Luther kommt es darauf an, „was Christum treibet“. Und sein Treiben merke man daran, dass das Herz von Grund auf lacht und fröhlich wird. Die Freude daran, dass zwei Menschen sich lieben, vermisse ich bei denen, die gegen die Trauung homosexueller Paare kämpfen.

Immer wieder begegnen mir Menschen, die sagen: Ich glaube an Gott, aber die Kirche brauche ich nicht. Glaube wird als eine persönliche
Angelegenheit verstanden, der an den je eigenen Orten und zu den je eigenen Zeiten erfahren wird, ob in der Natur oder bei besonderen Gelegenheiten. Eine Institution wie die Kirche aber – so die Sorge – schreibe vor, was man wie zu glauben habe. Sie engt die Individualität ein. Ich denke an Menschen, die davon erzählen, dass sie in der Not zu beten begonnen hätten, angesichts einer eigenen Krankheit oder ausgelöst durch die Angst um einen anderen Menschen.
Der Stoßseufzer ist ein sehr individueller, er braucht kaum Worte und ist fast ohne jede Voraussetzung. Er muss nicht gelernt werden. Und doch taucht man mit ihm ein in die Gemeinschaft derer, die Gott um Hilfe angerufen haben. Die Hoffnung im Stoßseufzer beruht nicht nur auf der für viele namenlosen Macht – dass da etwas ist, was über alles andere hinausgeht – , sondern auch auf der Erfahrung vieler, dass ein Gebet tröstet und vielleicht sogar hilft. Wer so seufzt, ist nicht mehr allein. Dem Seufzer folgen Stille, Ablenkung oder doch ein Wort. Worte können belanglos, überflüssig und leer sein. Oder sie sind doch voller Kraft. Ich spreche sie – laut oder leise – und kann mich in ihnen bergen und sie umhüllen mich mit Geborgenheit. Ich glaube, dass Worte einen Resonanzraum eröffnen, der heilsam ist. Solche Worte brauchen Pflege. Sie müssen gelernt und verinnerlicht und weitergegeben werden. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ – auch gegen jede schmerzhafte Erfahrung stärkt mich dieses Wort. Dieses Wort habe ich als Konfirmand gelernt. Es ist mir nahe gekommen. Kirche pflegt diese Worte. Kirche ist ein großer Resonanzraum für heilvolle Erfahrungen. Diese sind sehr individuell. Kirche ist nicht die Verwalterin einer Wahrheit, der sich alle unterwerfen müssen. Vielfalt und Dialog gehören notwendig zur Kirche. Die Gestalt der Kirche ist veränderbar. Aber ohne Menschen, die den Glauben pflegen, kann Glaube nicht leben. Glaube braucht Gemeinschaft