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Ich? Was ich glaube? Ich glaube an Texte und Geschichten. Ich glaube an die „Anderswelt“, die diese unsere Welt immer neu sichtbar macht. Die uns Deutungsmuster schenkt und das Leben zusammenerzählt. Ich wollte Schauspielerin werden und bin Pfarrerin geworden, weil mein Spielfeld Menschengeschichten wurden, die radikal nach dem ganzen Sinn fragen. Als Schülerin und Studentin habe ich Dürrenmatts „Alte Dame“ ebenso auf die Bühne gebracht wie Euripides „Medea“, diesen zweistündigen Schmerzensmonolog. Ich habe die Intensität von Worten und die Prägekraft von Geschichten in meinem Elternhaus mit der Bibel kennengelernt. Nicht umsonst antwortete Bert Brecht auf die Frage nach seinem wichtigsten Buch: „Sie werden lachen, die Bibel!“ Ein Weltkulturerbe ist die Bibel, ein Dokument der Menschheitsgeschichte, erzählt über tausende von Jahren, wortgetreu weitergegeben von Generation zu Generation, aufgeschrieben und gehütet von Priestern und Schriftgelehrten. Menschheitstexte in allen Gattungen und Formen: Sprüche sind dort gesammelt und Rätsel, Lieder und Gedichte und Novellen, Theaterstücke und Romane, Geschichtsbücher und Fabeln. Die lange Geschichte der Menschen mit Gott dokumentiert die Bibel und zugleich die Geschichte Gottes mit den Menschen. Was Menschen erleben und erleiden ist in diesen Texten verdichtet: Brudermord, Krieg und das Ringen um den Frieden, die Gesetzlichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Fragen nach Macht und Recht, Familienzwist und Kinderlosigkeit, der Kampf um bebaubares Land und ausreichend Wasser, Erotik und Liebe, Verrat und Verlust, jubelnde Gottesleidenschaft und abgründige Gottesverzweiflung. Heinrich Heine und Wolfgang Goethe, Kurt Tucholsky und Fjodor Dostojewski, für sie alle war die Bibel Grundmuster ihrer Literatur, Quelle für die Lebensdramaturgien, die sie unvergessen und unvergeßlich in Poesie gegossen haben. Die abendländische
Kunst ist ohne Kenntnis der biblischen Geschichten und Motive nicht zu verstehen. Und erst gar die Musik: Die Matthäuspassion, das Weihnachtsoratorium und die h-Moll-Messe von Bach, das Brahms- und da Mozart-Requiem, Händels „Messias“ … Die heilige Schrift der Juden und Christen beginnt mit dem Anfang der Welt und sie endet mit ihrem Ende. Nach dem griechischen Alphabet von Alpha bis Omega: Das ganze große Welttheater dazwischen. Und über Generationen haben Menschen ihr Leben in den Geschichten der Bibel geborgen. Sie fanden sich wieder in dem tragischen Menschheitsvater Kain, der eifersüchtig seinen Bruder erschlägt und im sterbenden Jesus, der am Kreuz stammelt: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Die ganze Bibel ist ein Lebensbuch für uns Menschen, die nicht wissen, was sie tun und die doch so leidenschaftlich wissen wollen, was sie tun sollen. Die Bibel ist kein Buch das simple Antworten auf Lebensfragen gibt oder gar Rezepte für gelingendes Leben, sondern sie artikuliert die offenen Fragen unseres Lebens auf Gott hin. Sie beschreibt den Rahmen, in dem wir unser Lebensbild malen können, das Spielfeld, auf dem wir unser Lebensspiel beginnen und auch wieder in Frieden enden können.
Unser Leben ist ein Geschenk singen die Texte – bei all dem Elend, das wir Tag für Tag wahrnehmen – ein Wunder der Vielfalt und der Schönheit. Und unsere Antwort auf dieses Geschenk möge der Dank sein. Leben kann glücken, wenn wir uns als Geschöpfe erkennen und nicht als die Macher des Lebens. Das alte Wort „Demut“ zieht sich in Wort und Sinn wie ein roter Faden durch die Schriften. Wir mögen uns einordnen und fügen in die Grenzen unserer Existenz, indem wir anerkennen, dass wir nur die kleinsten Puzzlestücke in einem großen Weltenplan sind, den nicht wir bestimmen, sondern der Gott der Zukunft, der sich selbst den Namen gibt: „Ich werde sein, der ich sein werde“ oder „Ich werde da sein, wenn ich da sein werde“. Und dieser Gott hat der Welt sein Gesicht gezeigt. Er hat sich irdisch verewigt in seinem Sohn, dem Menschensohn. In vier Büchern erzählen die Evangelien des neuen Testaments die Biografie des Menschensohns in vier Varianten. Eine lange Passion ist die Lebensgeschichte Gottes in der Welt – Gottes unerwiderte Liebesgeschichte. Das Leben eines einfachen Mannes, der alle Grenzen spreng: die Grenzen unserer Eigensucht und unserer Ichsucht, die Grenzen unserer Regelsucht und unserer Todessucht. Und es scheint auf das Gesicht der Barmherzigkeit, das Antlitzm der Vergebung, es zeigen sich Züge der Heilung und des Friedens. Wie arm wäre diese Erde ohne Texte wie die Bergpredigt: „Selig sind die Frieden stiften, selig, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, selig die Barmherzigen … oder Liebet Eure Feinde, Segnet die, die euch fluchen …“ Gott hat mit der Geburt Jesu einen neuen Ton angeschlagen in dieser Welt. Und wir hören diese Melodie von Generation zu Generation, weil sie wahrhaftig ist und weil sie sich im Leben von Milliarden von Menschen letztlich bewährt hat. Die Bibel ist ein Weltkulturerbe, aber auch ein persönliches Lebensbuch. Alle Jahre wieder wird sie in allen Kirchen der Welt gelesen: Die Weihnachtsgeschichte … „Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging“ und dann werden die prophetischen Worte hinzugefügt über „Bethlehem die kleine, die den Messias hervorbringen wird, und die Visionen von einem Friedensreich auf Erden: vom Löwen, der neben dem Lamm lagert und von dem Knaben, der neben dem Loch der Otter spielt. Und vom Mantel, der in Blut geschleift war und nun für immer verbrannt wird. Wenn wir das hören, entstehen Bilder im Kopf, stellen sich Erinnerungen und Assoziationen ein – tröstliche und schmerzliche. Wir denken an die vielen Mäntel, die in diesen Tagen in Blut geschleift werden und wir denken auch an die Friedenswunder, die wir immer wieder erlebt haben – im Kleinen und im Großen. Biblische Texte sind Lebenstexte, die einen begleiten können, wie ein warmer Mantel. Die Bibel ist ein Buch, über das seit hunderten von Jahren geforscht wird, dessen alten Chiffren Sonntag für Sonntag immer wieder neu enträtselt werden und es ist zugleich ein immer wieder neu: ein Erfahrungsbuch, ein Menschheitsbuch, ein
Lebensbuch. „Heilig“ ist dieses Buch nicht, weil es heilig macht oder von Heiligen berichtet, sondern weil es von Gottes Wegen in den Gedanken und Fantasien der Menschen erzählt und diese in sich birgt und entfaltet. Und „wahr“ ist dieses Buch im Sinne dessen, was sich im Leben und im Sterben von Menschen bewährt hat. Worte, die lebendig werden im Leben der einzelnen oder der Völker. Verdichtete Erfahrung. Schmerz, Leid, Angst, Freude Glück Krieg und Sieg, Verlust und Gewinn, alles was Menschen widerfahren kann, hier ist es geflüstert, in Psalmen gesungen und erzählt und geschrien und inszeniert. Die Geschichten der Bibel, die Erzählungen, die Gleichnisse, die Weisheitstexte, sie sind wahr, wo sie sich bewähren Sie bewähren sich in einem tiefen Sinn durch ein ganzes Leben. Ich weiß das, denn ich lebe mit diesem Buch und es überrascht mich immer wieder, weil es mit mir wächst und alt wird ohne an Aktualität zu verlieren. Ich gehöre zu den Glückspilzen, die in einer lebendigen Erzählgemeinschaft biblischer Geschichten aufgewachsen sind.
In einer Familie, in der man biblische Geschichten tradierte, weil man ihnen traute. Dieses Buch ist kein Kindergeburtstag. Das Menschheitsbuch
Bibel rechnet mit den abgründigen Seiten Gottes mit der Grausamkeit der Welt, mit dem Verlassensein von Gott und den Menschen und ringt damit Zeile für Zeile, Buchstabe für Buchstabe. Gott sei Dank, denn meine Erfahrung sagt mir, wenn ich in allen Abgründen des Lebens immer noch mit Gott rechnen möchte, dann brauche ich diese ganz großen, ganz offenen Fragen nach dem Abgrund. Ich gehöre zu den Glückspilzen, die von Kindesbeinen an aufgewachsen sind mit dem verlorenen Sohn, der im Grund immer weiß, daß er alles verspielen kann, Gottes Liebe aber nicht. Ich bin aufgewachsen mit Joseph, dem jüngsten der zwölf Söhne des Jakob, der verraten und verkauft in der Grube sitzt und sich ganz sicher ist: Ich komm hier raus. Ich bin aufgewachsen mit dem Mann Mose, der sich abrackert mit der ihm gestellten Lebensaufgabe ein Leben lang, die Früchte aber nicht erntet. Den schwangeren Frauen bin ich begegnet, der Hanna und der Maria, die mit der Zukunft Gottes im Leib Revolutionslieder singen. Empor mit den Kleinen, runter mit den Mächtigen, singen die Frauen – guter Hoffnung, den Blick auf das Kleine. Die Freundinnen, die ich in der Bibel hatte, lebten zwar in patriarchalen Verhältnissen, aber es waren großartige Sippenmütter, es waren Politikerinnen, es waren Kämpferinnen: alles was eine Frauenbiografie braucht. Ja, sie werden zu Lebensbegleitern, diese Figuren, zu sprechenden Wegweisern. Sie stehen in der inneren Welt herum und bieten sich an für mich mein Leben, dass ich mich darin berge. Bis zum Schluss: bis ich mich in Simeon und Hanna wiederfinde, die Alten, die den Tod nicht sehen werden, bevor sie nicht den Heiland gesehen haben. Schöne Aussichten.