Siegerbeitrag des Schreibwettbewerbs „Ein Volksfeind“: „Die Angst vor Volksfeinden“
27 Montag Jan 2014
Geschrieben von Redaktion in Schauspiel, Werkstatt und Foyer
DIE ANGST VOR VOLKSFEINDEN
von Brigitte Stenzhorn
Volksfeind Nr. 1: Vollbart, dunkles Haar, düsterer Blick
Er hat eine große Tasche dabei, stellt sie am Bahnsteig ab, schaut sich um, geht weg.
Schweißperlen tropfen mir von der Stirn, ich höre schon das Ticken der Bombe… muss die Polizei verständigen, sonst sterben viele Menschen….
Der Mann kommt mit einem Kaffee zurück, nimmt seine Tasche, steigt mit mir in die U-Bahn ein und setzt sich mir gegenüber. Kein Ticken zu hören.
Volksfeind Nr. 2: Glatze, Springerstiefel, stechender Blick
Er setzt sich neben den Mann mit Vollbart und mustert ihn.
Ich sehe schon, wie er den Mann anpöbelt, sein Schnappmesser zieht, auf ihn einsticht… ich muss die Polizei verständigen, sonst stirbt ein Mensch…
Der Mann mit Vollbart fragt auf Englisch, wann er zur Railway Station aussteigen muss. Der Springerstiefelmann erklärt es ihm freundlich.
Volksfeindin Nr. 3: Schwarzes Kapuzen T-Shirt, Hund, aggressiver Blick
Sie stellt sich neben mich und flüstert mit ihrem Hund.
Sie erinnert mich an gewalttätige Demonstranten, schwarzen Block, Straßenkämpfe. Ist der Hund ein Kampfhund? Ich sehe schon, wie sie ihn auf den Springerstiefelmann hetzt… muss die Polizei verständigen, sonst gibt es Verletzte…
Der Springerstiefelmann streichelt den Hund, die Kapuzenfrau lächelt ihn an.
Volksfreund Nr. 1: Glattrasiert, kurzes Haar, grüne Uniform, freundlicher Blick
Am Hauptbahnhof steigen wir alle aus.
Ausweiskontrolle: Der Mann mit dem Vollbart versteht die Aufforderung nicht. Ich will auf Englisch aushelfen, aber da steht er schon an der Wand, wird festgehalten und durchsucht….
Ich protestiere, aber da erklärt mir der Volksfreund Nr.1, dass er mich vor Volksfeinden beschützt, damit ich keine Angst haben muss.
Volksfreundin Nr. 2: Blaues Einheitsjackett, heruntergezogene Mundwinkel, unsteter Blick
Ich schlage die Zeitung auf und Volksfreundin Nr. 2 schaut mich an. Im Interview erklärt sie, dass sich der Staat um unsere persönliche Sicherheit kümmert und uns vor Volksfeinden beschützt. Der Datenschutz sorge dafür, dass kein Unschuldiger überwacht würde. Persönliche Daten würden nur generell und nicht speziell ausgewertet.
Volksfreund Nr. 3: Schwarzer Anzug, dunkle Sonnenbrille, konzentrierter Blick
Der Volksfreund Nr. 3 sitzt am PC und schaut sich die Überwachungsvideos der U-Bahn an. Ihm fällt auf, dass eine Frau mit verdächtig unschuldigem Gesicht gemeinsam mit einem fremdländisch aussehenden Mann mit Vollbart, einen Springerstiefelmann und einer Kapuzenfrau, die vermutlich aus dem Schwarzen Block stammt, U-Bahn fährt und so tut, als würde sie keinen kennen.
Er scannt das Gesicht und informiert weitere Volksfreunde.
Volksfreunde Nr. 4, 5, 6, 7 und 8: Grüne Uniformen, behelmt, unfreundliche Blicke
Die Volksfreunde 4, 5, 6, 7 und 8 stürmen meine Wohnung. Hausdurchsuchung. Sie finden nichts Verdächtiges, nehmen mich und meinen PC aber vorsorglich mit. Nach weiteren Ermittlungen bin ich entlastet: Ich sei wahrscheinlich doch keine Volksfeindin, aber mein PC bleibt vorsichtshalber beschlagnahmt. Und: Ich soll aufpassen, mit wem ich kommuniziere, denn der Algorithmus schlägt zu, auch wenn man die verdächtigen Personen nicht persönlich kennt. Es täte ihnen leid, aber nur so könnten Terroristen identifiziert werden. Also diene das ja auch meinem ganz persönlichen Schutz.
Der Staat funktioniert, ich muss vor den Volkfeinden keine Angst haben.
Menschenfreunde
Ich gehe nach Hause. Dort warten meine Freunde auf mich. Sie fragen nicht nach, sie verdächtigen mich nicht, sie kochen etwas für mich und gemeinsam feiern wir die Freiheit.
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Brigitte Stenzhorn ist 53 Jahr alt und hat in ihrer Jugend Theaterwissenschaften, Spanisch und Italienisch studiert. Als Marketing-Kauffrau arbeitet sie nun in der IT-Abteilung eines großen Industrie-Unternehmens und ist dort für die weltweite Mitarbeiter-Kommunikation zuständig. Brigitte Stenzhorn ist überzeugte Wahlfürtherin und liebt den Fürther Stadtpark und die Fürther Kärwa. „Die Angst vor Volksfeinden“ ist ihr erster veröffentlichter Text.
1 Kommentare
Christian sagte:
16. Februar 2014 um 18:54 Uhr
ECCEZIONALE – Gitte, wir lieben Dich! Ein wunderbares Talent, dass endlich ans Licht tritt! Wir freuen uns auf weitere Statements in dieser haltungslosen Zeit!
Renate & Christian